„Wenn du schwach bist, bin ich stark“

Ich habe mich verändert. Mein letzter Artikel im Magazin „MOVO“ erschien unter dem Titel „Gott will echte Kerle“. Damals habe ich unter anderem grossen Wert auf meine Autorenbeschreibung gelegt: Wie kann ich meine Stärke präsentieren? Wie kann ich den Leser in wenigen Sätzen überzeugen, dass ich eben ein „echter Kerl“ bin? Ja, ich habe mich über meine Stärke definiert und tue es heute noch. Aber auf eine mir neue Art. Denn auch jetzt schreibe ich über Stärke, allerdings aus einer (für mich) neuen Perspektive.

Damals bekam ich diese Verheissung, Gott persönlich ermutigt mich immer wieder dadurch:

„Ich werde euch so viel Gutes erweisen wie nie zuvor.“

Hesekiel 36,11

Voller Erwartung, all dies „Gute“ zu empfangen, kam die Krankheit. Ich schreibe bewusst nicht, dass ich ‚krank wurde‘. Denn die Krankheit ist temporär, sie ist nun für eine Zeit ein Teil meines Lebens. Sie beeinträchtigt zwar meine Leistung, definiert aber nicht wer ich bin. Mein Körper ist schwach, aber meine Seele und mein Geist sind weiterhin gesund. Meine Hoffnung: auch mein Körper wird wieder geheilt! Wenn nicht morgen, vielleicht übermorgen. Aber ganz sicher dann, wenn ich in meinen neuen „ewigen Leib“ leben kann. In dieser perfekten Biotech Maschine, die Gott allen seinen Kindern verspricht (1. Korinther 15,43).

„Meine Kraft reicht nicht mehr. Jesus, ich brauche Dich!“

Immer müde

Es begann vor zwei Jahren. Ich war ständig müde, habe regelmässig bis zu zehn Stunden geschlafen und brauchte einen zusätzlichen Mittagsschlaf. Beim Joggen klebten meine Füsse auf der Strasse, meine Beine waren schwer wie Blei, die Muskeln schmerzten. Eines Tages war ich so schwach, dass ich nicht mehr aufstehen konnte. „Burnout!“ war nicht nur mein erster Gedanke. Auch mein Umfeld war überzeugt, dass mein Körper den übersteigerten Erwartungen nicht mehr nachkommen wollte. Doch abgesehen von den physischen Beschwerden, ging es mir gut. Nach einem vierwöchigen Timeout im Bett, konnte ich mich wieder aufrappeln. Unter grosser Anstrengung versuchte ich da weiterzumachen, wo ich aufgehört habe. Aber es ging nicht. Meine Leistung hat sich dauerhaft auf ca. 60% reduziert und trotz viel Schlaf habe ich mich nicht erholt. „Das ist halt so, mit 40…“ war ein verzweifelter Versuch, das Unerklärliche einzuordnen. Dass der Körper altert und an Kraft verliert, war mir bewusst. Aber so krass? Und in so kurzer Zeit? Das kann nicht sein! Dann kam ein weiterer Rückschlag: Anfang 2020 war ich für einige Wochen nur zu knapp 20% arbeitsfähig.

Die Diagnose

Nach einigen Abklärungen bekam ich die Diagnose: CFS (Chronisches Fatigue Syndrom). Ja, das „C“ steht für „chronisch“ und bedeutet „langwierig, andauernd, fortlaufend“. Meine ersten Gedanken: „Eine chronische Krankheit! Ich? Unmöglich! Dann muss es doch ein Burnout sein.“ Doch auch die Psychologin konnte keine deutlichen Hinweise auf eine psychische Ursache finden. Also musste ich mich damit abfinden, dass der oberste Chef meine Leistungsgrenze nun deutlich zurückgestuft hat. Ich war frustriert. Von einem Burnout hätte ich mich erholen können, ich hätte eine Auszeit genommen, mich in Therapie begeben, mein Leben geändert. So einfach stelle ich mir das zumindest vor. Aber einer chronischen Krankheit sah ich mich hilflos ausgeliefert. Nach dem ersten Schock machte ich mich auf die Suche nach menschlichen Möglichkeiten, mein „Schicksal“ selbst zum Guten zu wenden. Diverse Lebensberichte von Betroffenen gaben mir Hoffnung. So habe ich meine Ernährung umgestellt: keinen Alkohol, keine Gluten und möglichst wenig Zucker. Dazu Nahrungsergänzungsmittel und Vitamine. Und die Anwendung des sogenannten „pacing“ (ich respektiere meine Leistungsgrenze und verbrauche jeweils nur 80% der täglichen Energie). Auch regelmässige Ruhepausen und wenig Stress haben geholfen, dass ich wieder 50% arbeiten kann. Aber was ist mit der anderen Hälfte meiner Energie?

‚Akzeptieren‘ vs ‚Kapitulieren‘

Wass soll ich tun? Als Pastor in einer wachsenden freikirchlichen Bewegung war es immer meine Überzeugung, dass wir Christen Zugang zu unbegrenzter, übernatürlicher Kraft und Gesundheit haben. „Alles ist möglich dem, der glaubt“ und andere Bibelverse haben diese Einstellung befeuert. Doch egal wie viel ich und andere für mich beten, meine körperliche Kraft bleibt klein. Meine natürliche Reaktion ist, die negativen Umstände zu ignorieren, weiterzumachen und „im Glauben“ voran zugehen. Doch mit CFS ist das unmöglich. Denn: Lebe ich über meinem Limit, folgt der „Crash“ – eine Zeit der totalen Erschöpfung. Ich wollte das nicht wahrhaben und probierte mehrmals erfolglos, meine körperlichen Grenzen zu erweitern (und werde es wieder tun). Meine Gedanken kreisen: „Wenn ich nun aber meinen Umstand akzeptiere, dann kapituliere ich… ich kann doch nicht vor der Krankheit auf die Knie gehen!“ Doch Gott hat mir das Gegenteil bewiesen: Er hat mich gelehrt, die Situation zu akzeptieren, damit ich Veränderung erleben kann. Ein Sinnbild dafür ist der Mann, der ständig mehr Geld ausgibt, als er hat. Erst wenn er einsieht, dass er ein Problem hat und bereit ist, ein realistisches Budget einzuhalten, wird sich seine Situation zum positiven verändern. Solange er zu sich sagt „Gott ist mein Versorger, ich muss nur glauben!“ wird er von Monat zu Monat tiefer in die Schulden sinken. So habe ich nach einigem Ringen diese Krankheit akzeptiert: Ich sehe sie als einen Begleiter, der für eine von Gott festgesetzte Zeit an meiner Seite ist. Es ist mein Kreuz, das ich zu tragen habe. Gott mutet mir das zu, er glaubt an mich! In dieser Zeit höre ich Jesus zu mir reden, er lehrt mich und schenkt mir Durchbrüche. Ich erlebe Segen und Freiheit, die ich als gesunder Mann nicht kannte.

„So, Gott, jetzt habe ich meine Lektion gelernt! Du darfst die Übung abbrechen.“ bete ich regelmässig. Denn bis anhin war mir klar, dass Gott Leid und Probleme zu unserem Besten für eine begrenzte Zeit zulassen kann. Nach dem Motto: „Nach der Krise bist du stärker!“ Aber was, wenn die Krise kein Ende nimmt? Die Ungewissheit, wie lange Gott mir das noch zumuten will, belastet mich immer wieder. Darum versuche ich, einen Tag nach dem anderen zu nehmen und zu vertrauen, dass Gott weiss, was er tut. Er ist noch nicht fertig mit diesem Kapitel und meine Veränderung geht weiter.

Schwach-Stark

„Krankheit? Kein Thema! Leid? Erledigt!“ So habe ich das Neue Testament gelesen. „Alle wurden sie geheilt, alle waren sie kraftvoll und gesund. Pausenlos haben die Apostel mit übernatürlicher Kraft für Gott gearbeitet.“ Für die Bibelstellen, die von Leid und Krankheit unter den Aposteln sprachen, hatte ich kein offenes Ohr. Und ja, es gibt eine Menge davon! Timotheus hatte ein schwaches Immunsystem (1. Timotheus 5,23), Epaphroditus (Philipper 2,26) war todkrank und auch Paulus schreibt auffällig oft von seiner körperlicher Schwäche, er hebt sie sogar als Teil von Gottes Plan hervor (1. Kor. 1;27). Die Gemeinde in Galatien lobt er dann auch dafür, wie sie damit umgegangen ist, als Paulus krank war: „… und obwohl meine Krankheit eine Bewährungsprobe für euren Glauben war, habt ihr mich weder verachtet noch abgewiesen.“ (Galater 4,14) Ja, unsere Beziehung zu Gott wird auf „Herz&Nieren“ geprüft, wenn einer unserer geistlichen Vorbilder erkrankt. Ich hörte mal jemanden sagen: „Vertraue nie einem Heilungsprediger, der eine Brille trägt!“ Aber Paulus beweist uns das Gegenteil! Nämlich, dass wir selbst nicht gesund und leistungsfähig sein müssen, um Gott dienen zu können. Unser Dienst wird durch unsere eigene Schwäche weder beeinträchtigt noch unglaubwürdig. Im Gegenteil: Er wird geheiligt! Wo unsere Möglichkeiten aufhören, beginnen Gottes. Sein Geist kann auch durch einen kranken Körper wirken. Um ein gängiges Missverständnis aus dem Weg zu räumen: Wenn Paulus von „Schwäche“ spricht, meint er körperliche – nicht charakterliche Schwäche! Seine Aussagen werden viel zu oft dafür missbraucht, unser eigenes unmoralisches Handeln zu rechtfertigen.

Leiden mit Vision

Es scheint, als müsste unser Leid einem höheren Zweck dienen. Während ich bis vor kurzem davon ausgegangen bin, dass sich alles Leid „weg beten“ oder überwinden lässt, weiss ich jetzt aus eigener Erfahrung, dass „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“. Ich sehe noch keine körperliche Heilung, dennoch arbeitet Gottes Geist in mir! Ich habe mich entschieden, dem Heiligen Geist nicht im Weg zu stehen. Ich will sein Werk an mir bewusst zulassen. Mit Freude beobachte ich, wie er mich immer mehr in den Reto verwandelt, der ihm ähnlich ist.

Die Worte von Gott an Paulus verstand ich nie wirklich. Sie haben mich nicht „getroffen“, denn ich habe mich selbst immer als stark erlebt. Aber jetzt, in dieser Zeit der Schwäche, finden diese Worte ihren Weg in mein Innerstes: „… Denn gerade wenn du schwach bist, wirkt meine Kraft ganz besonders an dir. Darum will ich vor allem auf meine Schwachheit stolz sein. Dann nämlich erweist sich die Kraft von Christus an mir.“ 2. Korinther 12:9 HFA

Was ich höre, kann ich glauben. Was ich erlebe, kann mich verändern.

Reto Kaltbrunner

CFS ist in meinem Fall ein effektives Werkzeug in Gottes Hand. Er lehrt mich, wie Er in meiner Schwachheit stark sein will.

Meine Krankheit verarbeite ich auch in meinem Buch.


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Comments

6 Antworten zu „„Wenn du schwach bist, bin ich stark“”.

  1. Avatar von ALLES IST MÖGLICH
    ALLES IST MÖGLICH

    Danke lieber Reto, für die Offenheit und deine ehrlichen Gedanken. Es ist sehr sehr ermutigend diesen ganzen zusammengefassten Ablauf zu lesen. Zur rechten Zeit.

    1. Avatar von Reto Kaltbrunner

      Das freut mich zu hören! Danke für Deinen ermutigenden Kommentar!

  2. Avatar von Tabea
    Tabea

    Danke, für diesen starken Bericht!

    Herzlichst, Tabea

    1. Avatar von Reto Kaltbrunner

      Gerne! Danke für Deine Rückmeldung!

  3. Avatar von Charly

    Wenn Man(n) liest, was Johannes zu den Kindern, Jünglingen und Vätern schrieb, wird deutlich, dass die Jünglinge sich aus ihrer Kraft, ihrem Können identifizieren. ( …weil ihr den Bösen überwunden habt. … und … weil ihr stark seid und das Wort Gottes in euch bleibt … )
    Die Väter hingegen aus ihrem Sein in Gott. (…weil ihr den erkannt habt, der von Anfang an ist)
    Seine Stärke/n zu kennen ist gut. Zu erkennen, dass es aber nicht diese sind, die uns ausmachen und identifizieren zeigt größere Weisheit.
    Offensichtlich bist du auf dem Weg diese Weisheit zu erlangen. Das ist gut. Leider musst du das auf diesem Weg erfahren. Ich wünsche dir, dass du den erkennst, der von Anfang an ist. Dass du erkennst, was dies wirklich bedeutet: Eph 6:10 Schließlich: Werdet stark im Herrn und in der Macht seiner Stärke!

    Eine Frage noch: Erscheint dieser Artikel dann auch in der MOVO? Ehrlich gesagt sind mir die chr. Männermagazine viel zu sehr auf die Jünglinge orientiert 😉

    1. Avatar von Reto Kaltbrunner

      Danke! Ja, der Artikel steht in der aktuellen MOVO Ausgabe.

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